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Zeitzeichen
von
-Roswitha Maria Gerwin-
„Wegen des Ausblicks“, sagen die Leute,
würden sie gerne da oben wohnen. Da oben, das ist der Lohweg 2, der
Aussiedlerhof meines Bruders, der vor über 50 Jahren vom unteren
Loh-Wäldchen zum oberen gezogen war. Und nun wohne auch ich hier oben. Mein
Bruder war jedoch nicht wegen des wunderbaren Ausblicks über einen großen
Teil des Sauerlandes bis zur Soester Börde auf die Höhe gezogen, sondern
wegen einer landwirtschaftlichen Ausbreitung. Mein Vater unterstützte alles.
Dennoch wäre er gern in seinem sowie meinem Geburtshaus geblieben...
Die Jahre sind ins Land gezogen – die
Menschen älter geworden oder gestorben und inzwischen ist das meiste Land
sowie die Stallungen verpachtet.
In Dießen genoss ich auch eine besondere Aussicht: Von einem Balkon über den
Ammersee schauend, mit Blick auf Kloster Andechs – besonders im Winter, wenn
die Bäume nicht den Blick verstellen. Vom andern Balkon sah ich die
ehrwürdige Kirche, mit dem besonderen Turm des Marienmünsters. Schon beim
Hinschauen hörte ich im Geiste die Glocken läuten...Und noch heute gehen sie
mir nicht aus dem Ohr.
Jetzt, nach meiner Rückkehr zum Tal auf der Höhe, wie Herdringen genannt
wird, schaue ich aus dem Fenster zuerst über die nahen Wiesen, auf denen
Kühe und Pferde weiden. Ganz plötzlich ist es Frühling geworden und ich kann
zusehen wie alles sprießt und blüht! Und das noch ganz kleine Kälbchen
umläuft jeden Morgen die bunte Kuh mit den langen Haaren und Hörnern, die
noch ruht und stößt sie immer wieder an, solange, bis das Muttertier
aufsteht und die Milchquelle freigibt. Glückliches Kalb!
Nicht allen Tieren geht es so gut. Im verpachteten -zwar offenen Stall-
stehen zu viele Rinder dicht beieinander und stieren in die Luft. Ich gehe
jeden Tag tröstend zu ihnen. Denn es ist traurig, dass sie nicht weiden
dürfen!
Unter den Wiesen liegt der Friedhof, den ich auch schon zu einer Beerdigung
beging. Mir kam es vor, als ginge das halbe Dorf mit. Ein neunzigjähriger
Verwandter wurde begraben, der mir als Vierjährige einen Kaufladen zimmerte
und inzwischen mehrere Kinder-Generationen erfreute.
Dann schaue ich weiter auf Kirche und Schule, die zu meiner Zeit höchste
Würdenträger waren. Dahinter das Schloss, von denen 'von Fürstenberg', mit
einem alleinstehenden Baron (früher waren es Fürsten und Grafen), der
mehrere Helikopter besitzt, die er rund ums Schloss aufgestellt hat. Meine
gute Erinnerung lässt vieles erhellen, weil die Kindergartenzeit im Schloss
noch heute Prinzessinnen und Prinzen tanzen lässt... Und schließlich war
schon meine Großmutter Oberköchin im Schloss! Schöne Eintragungen in ihrem
Poesie-Album lassen auf Vieles schließen.
Schaue ich aus dem großen Fenster nach links zur Teilstadt Neheim, sehe ich
vordergründig, fast wie auf ein neues Dorf, mit großen Wirtschaftsgebäuden,
die sogenannte Wiebelsheide. Früher grasten dort unsere Kühe , die wir
Kinder auf der Waldwiese oftmals hüteten.
Ganz nahe jedoch, direkt hinter dem Loh-Wäldchen zur linken Seite, steht die
Freilichtbühne Herdringen, auf der ich als Kind 10 Jahre mitspielte.
Freilich gab es damals nur fromme oder klassische Theaterstücke sowie
Märchen von den Gebrüdern Grimm.
Heuer gibt es für Kinder und Junggebliebene „Pippi Langstrumpf“. Für
Liebhaber der leichten Muse ein Schlagertheater aus den siebziger Jahren:
„Schlager lügen nicht“, wohl auch zum Mitsingen.
Würde ich die Optik nach links ausweiten, könnte ich über den Berg das alte
Kloster Oelinghausen sehen, welches noch heute eine kultur-religiöse Sprache
spricht. Zur Zeit sind nur 3 Ordensschwestern vom französischem Orden „Der
Heiligen Maria Magdalena Postel“ dort.
Der Blick nach rechts gibt die Teilstadt Hüsten und das Dorf Müschede frei.
Dieses Dorf war für uns Kinder stets wichtig, denn unsere Mutter und viele
Verwandte sind dort geboren. Am Sonntag radelte unsere Mutter mit ihren 3
Mädels -nach der Andacht- oftmals zu ihrer Mutter ins Eulendorf Müschede.
Die Jüngste saß vorn im Körbchen, die Zweite hinten auf dem Gepäckträger,
mit der Mahnung dieses Mal nicht einzuschlafen – und ich als Älteste lief
nebenher. Vielleicht rührt meine Wanderliebe daher...
Ich gehe jetzt wieder oft zu Fuß, auch um alte Straßen und Namen des
Krähen-Dorfes zu erinnern – und sehe noch manche Bewohner im Geiste vor
ihren Häusern -. Aber real finde ich nur noch wenige. Vieles ist jedoch
sinnvoll erneuert worden und einen neuen Dorfplatz gibt es auch, mit
Abbildungen aus früheren Zeiten.
Jemand sagte: „Wenn du die alten Namen suchst, dann gehe auf den Friedhof“!
Ja – er hatte Recht. Da finde ich sie alle wieder – liegend in Reih' und
Glied -. Bilder und Tränen steigen auf – verfliegen mit dem Wind...
Täglich holen junge Mädchen eine ganze Horde schöner Pferde von unserer
Koppel hinunter ins Tal, um teils für Rennen und teils fürs Therapie-Reiten
herzurichten und aufzusatteln. Sie grüßen stets so freundlich, aber ich
kenne keines mehr.
Beim Hochwandern sehe ich die schönen Tiere
oft so stehen als meditierten sie – und ich glaube, dass sie es schon immer
taten -.
Beim Hinunterwandern belohnt mich ein Blick ins Loh-Wäldchen, mit
Schlüsselblumen und Buschwindröschen übersät wie in der Kinderzeit.
Sternenblumen nannte ich sie, weil ich kleinkindlich glaubte, dass zur
Namenstags- und Geburtstagszeit die Sterne vom Himmel auf die Walderde
fallen...
Und nun blühen sie sogar auf meiner Wiese neben und hinter dem Haus, als
wollten auch sie mich erinnernd begrüßen.
Ja – mit 18 bin ich fortgezogen und mit 75 komme ich zurück in die
Sauerländische Heimat, auf den Bauernhof. Wieviel bringe ich von 'unterwegs'
mit? Und wieviel darf ich... und wieviel will man...?
Jeden Morgen, nach den Yogaübungen im Freien, setze ich mich auf meinen
neuen Meditationsplatz in die Stille, wie in einen großen Dank an das Leben
und an die Liebe.
Möge es so bleiben. „So Gott will“ sagten die Eltern und Großeltern.
„ Weil ich in der Stille anfing,
konnte ich dem Lauten nie ganz verfallen.
Weil ich als Kind die Wälder schweigen und wachsen sah,
konnte ich immer ein stilles Lächeln
für das aufgeregte Treiben haben,
mit dem die Menschen ihre vergänglichen Häuser bauten.
Es war, als trüge ich andere Gesetze und Maßstäbe in mir“
-Ernst Wiechert-
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